RSV-News Nutzungsdauer: Abkehr vom Schubladendenken

Schluss mit pauschalen Annahmen: Im Interview erklären Dr. Robert Stein und Andreas Haacker, warum beim Thema Nutzungsdauer ein neues Denken erforderlich ist.

Warum ist die Nutzungsdauer von Sanierungssystemen gerade so ein wichtiges Thema?

Stein: Wir haben es heute in der Substanzbewertung in Deutschland mit einer neuen Realität zu tun. Brücken, Straßen, Leitungen – man erkennt, dass unsere Infrastruktur unsere Zukunft ist, und dass hier Geld fließen muss. Im Bereich der Instandhaltung von Kanälen stehen wir vor einer Aufgabe, die dringend neu gedacht werden muss. Denn die bisherigen, starren technischen Nomenklaturen fokussieren auf die Schäden, die aktuell den Gebrauch einschränken. Sie funktionieren aber nicht für die realistische Einschätzung des Substanzwertes im Sinne einer langfristigen Gebrauchstauglichkeit. Wir müssen davon wegkommen und für die Nutzungsdauer das einzelne Projekt individuell betrachten. Dafür haben wir einen DWA-Arbeitskreis gegründet, der sich der Aufgabe annimmt und den Weg dafür finden soll.

Mit Nomenklaturen meinen Sie Reparaturverfahren, Renovierungsverfahren und Erneuerungen, die großen Kategorien aus der DIN EN 15885? Was ist daran kritisch?

Stein: Nichts. Mein Vater war selbst einer derjenigen, der viele Normen und Regelblätter mit initiiert hat und wir sollten bei allem, was wir tun, normkonform arbeiten. Allerdings müssen wir bei der kaufmännischen Bewertung schauen, welche alternativen Instrumente es für eine Nutzungsdauerermittlung respektive Substanzwertermittlung gibt. Vielfach sieht man in Regelwerken und in der Literatur pauschale Empfehlungen für Vermögensbewertungen und Nutzungsdauern, je nach Verfahrensgruppe oder Materialien. Das geht aus meiner Sicht auch anders, hier ein Beispiel: Unser Ingenieurbüro hat für die Stadtentwässerung Düsseldorf eine Stellungnahme zur Nutzungsdauer der Reparatur von gemauerten Kanälen mittels Fugensanierung erarbeitet. In dieser führen wir den Nachweis, dass unter Berücksichtigung gewisser Aspekte und Qualitätsvorgaben diese Form der Reparatur als Investition mit einer Nutzungsdauer von 80 Jahren angesetzt werden kann. Das ist weit weg von den bisherigen Standard-Aussagen zu Reparaturverfahren. Das Schubladen-Denken, wonach für ganze Sanierungsgruppen bestimmte Nutzungsdauern festgelegt werden ist nicht mehr angebracht.

Haacker: Das Gleiche gilt auch bei vor Ort härtenden Schlauchlinern. Die bisherigen Einschätzungen sind veraltet und primär theoretisch, da es zu der Zeit, als sich der deutsche Markt für die die Verfahren öffnete, noch wenige Erfahrungen gab. Mittlerweile kommen die Verfahren seit ca 40 Jahren zum Einsatz und die Beurteilung des Langzeitverhaltens kann an den damals eingebauten Linern vorgenommen werden. Bei Probenahmen hat sich gezeigt: Sanierte Rohre, die seit Jahrzehnten im Einsatz sind, sind heute noch im Top-Zustand und zeigen keine signifikanten Abminderungen. Alterungserwartungen können heute genauer und spezifischer denn je getroffen werden. Ich schließe nicht aus, dass viele Schlauchliner Nutzungsdauern von 100 Jahren und mehr erreichen können.

100 Jahre Nutzungsdauer für Schlauchliner? Klingt nach einer kühnen Behauptung…

Haacker: Keineswegs. In aktuellen Regelwerken wie dem RSV-Merkblatt 1.1 wird die technische Nutzungsdauer mit mindestens 50 Jahren veranschlagt. Die statische Berechnung hierfür erfolgt auf Basis von 10.000-Stunden-Tests bei der Zulassung. Etwas über ein Jahr lang werden die Rohre im Labor statischen Lasten ausgesetzt und dies wird dann auf die nächsten 50 Jahre extrapoliert. Das entspricht nur 2,3 Prozent der erwarteten Nutzungsdauer. Inzwischen wissen wir, dass Schlauchliner 40 Jahre ohne signifikante Abminderungen der Materialkennwerte im Betrieb sind. Wir können also zunehmend sichere Annahmen treffen.

Wenn wir heute von 100 Jahren sprechen, liegt es daran, dass die Dauerhaftigkeit der Werkstoffe dies hergeben kann. Entscheidend ist nicht nur die Materialzusammensetzung, sondern die Qualität der Fertigung vor Ort - sprich: Wie wurden die Vorprodukte auf der Baustelle zum Endprodukt? Hier sehen wir deutliche Unterschiede von Netzbetreiber zu Netzbetreiber, was die Qualitätsüberwachungsmechanismen betrifft. Wer keine Qualitätsvorgaben macht und den Einbauerfolg nicht überprüfen lässt, der muss mit dem Risiko einer eingeschränkten Nutzungsdauer leben.

Wie könnte ein neues Bewertungssystem denn aussehen?

Stein: Wir müssen die Nutzungsdauereinschätzung nicht als statischen Prozess begreifen, sondern als dynamischen. Daher reichen „geschätzte“ Mittelwertbetrachtungen für eine komplexe und stark heterogene Abwasserinfrastruktur nicht aus. Wie werterhaltend wurde die jeweilige Maßnahme geplant und realisiert? Welche Belastungen und Rahmenbedingungen liegen vor? In welchen Abständen werden Feststellungen zur Gebrauchstauglichkeit vorgenommen? Anstatt nur einmalig eine Einschätzung zur Abschreibungsdauer zu treffen, brauchen wir ein Substanzwerterhaltungskonzept, das langfristig gilt und differenzierte Ableitungen einer Nutzungsdauer ermöglicht. Nur so können Investitionen sinnvoll eingesetzt werden und nachhaltig wirken.

Veranstaltungshinweis: Das Thema Substanzerhaltung steht im Mittelpunkt des jährlichen Kanalgipfels. Im kommenden Jahr findet dieser am 5. bis 6.  September 2024 in Berlin statt. Zur Seite des Veranstalters

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